Dass Innsbrucks ältester Stadtteil Mariahilf/St. Nikolaus seit längerem einem Wandel unterliegt, unterscheidet ihn nicht unbedingt von anderen Stadtteilen in Innsbruck oder anderswo. Auch wenn, zugegeben, die Geschichte des geografisch kleinen Stadtteils durchaus spannend ist und viel über Innsbruck erzählt. Historisch betrachtet hatte sich das einstige Gewerbegebiet zu einem Wohnquartier für „Gastarbeiter*innen“ entwickelt. Vom Gewerbegebiet zeugt heute noch das seit 1777 bestehende Familienunternehmen Walde für Seifen und Kerzen. Von den Migrant*innen sind inzwischen viele schon weggezogen, trotzdem ist auf Grund der Gastronomie vor Ort noch ein Hauch Internationalität sichtbar. In den letzten Jahren ist der Stadtteil vor allem mit dem Thema Gentrifizierung in Verbindung gebracht worden: Die ökonomische Aufwertung und die damit verbundene Änderung der Bewohner*innenstruktur. Die Stadt Innsbruck hat Interesse daran, Tourist*innen auf die andere Seite des Inns zu bekommen. Dafür wird versucht, den Stadtteil als Kreativ- und Kunstgrätzel zu etablieren. In einem klassischen Top-down-Prozess sollte hier in der Sprache des städtischen Markenbildungsprozesses ein „pulsierender urbaner Raum“ entstehen, sprich ein weltoffenes Innsbruck geschaffen werden. Das könnte unter anderem so verstanden werden, als sei Innsbruck das nicht und müsste daher künstlich in diese Richtung verändert werden.
Wer das auf jeden Fall nicht künstlich schaffen muss, sondern in die gelebte Praxis umsetzt, ist der im Stadtteil ansässige Kulturverein Vogelweide. Der 2015 gegründete Verein hat sich nach dem Park und dem heimlichen Zentrum im Stadtteil benannt. Dieser wiederum leitet seinen Namen von dem deutschsprachigen Lyriker Walther von der Vogelweide ab. Als einer der Gründungsmenschen gilt der ehemalige Besitzer und Barbetreiber des „originalen“ Innkellers Toni Wechselberger, besser bekannt als Innkeller Toni. Laut Gründungsmythos ist dort der Ursprung des Kulturvereins zu verorten, so berichtet mir Susanne Grüner. Sie ist selbst von Anfang an im Verein aktiv, wie auch ihr Mann Christopher Grüner. Das Architekturatelier ihres Mannes ist der Treffpunkt für die mittwöchlichen, aber nicht ganzjährigen Plena der Vogelweide. Die Vogelweide trifft sich von Frühjahr bis Winter ca. 40 Mal im Jahr und funktioniert wie eine Art Stammtisch.
Beim Besuch des Plenums wird die offene Struktur des Vereins deutlich: Jede*r kann kommen und man muss nicht aus dem Stadtteil sein. Im Scherz wird gesagt, dass ich jetzt schon ein Teil des Vereins bin, da ich schon öfters als einmal hier war. Gewünscht ist Interesse am kulturellen Schaffen mit sozialen und politischen Implikationen. Kulturarbeit aus dem Stadtteil für die Menschen. Denis Dinu ist zum Beispiel über das Vogelweideprojekt „Semaphor“ dazugestoßen und bestätigt mir, wie einfach es für ihn war, beim Verein mitzumachen: „Es war alles bunt und niederschwellig und man konnte direkt mitmachen und wir waren sofort dabei.“
Der Ausgangspunkt für das kollaborative Schaffen war der von der Stadt Innsbruck initiierte Bürgerbeteiligungsprozess, aus dem später der Stadtteilprozess Anpruggen entstand. Anpruggen ist ein Verweis auf den ursprünglichen Namen des Stadtteils und damit einher geht wohl die Vorstellung einer besseren ökonomischen Verwertbarkeit.
Vincent Mell, der selbst im Stadtteil lebt und von Anfang an dabei ist, berichtet, wie dieser Prozess der Startschuss für den Verein war: „Bei diesem Bürgerbeteiligungsprozess waren verschiedene Themenfelder zu bearbeiten, und unter anderem gab es mehrere Themenbereiche aus dem Bereich Soziales und Kultur, wo sich mehrere Menschen aus dem Stadtteil getroffen haben und dann besprochen haben, was gibt es an Kultur, was bräuchten wir mehr, was gibt es an sozialen Einrichtungen und wie ist der soziale Zusammenhalt hier?“ Bei den Treffen im Rahmen des Stadtteilprozesses ist die Idee entstanden, dass es einen Verein bräuchte, unter dem gemeinsam etwas passiert und in den Stadtteil hineinwirkt. Daher haben sich Toni Wechselberger, Vincent Mell, Markus Weithas, Christopher und Susanne Grüner, Hannes Sucher, Stöffel und etwas später auch noch der jetzige Obmann Klaus Jahnel zusammengetan und es entstand der Kulturverein Vogelweide.
Die meisten Veranstaltungen finden – wenn es das Wetter zulässt – im Park statt. Die Vogelweide bespielt vor allem den Park, um einen Kontrapunkt zu dem nicht weit entfernten Markplatz zu schaffen. Es geht darum, im öffentlichen Raum einen Platz ohne kommerzielle Veranstaltungen und ohne Konsumzwang zu ermöglichen. Das sind Bedingungen, damit der Ort als Begegnungs- und Kommunikationsort funktionieren kann und unabhängig von den finanziellen Voraussetzungen die Menschen zusammenbringt.
Am Anfang war noch keine Infrastruktur im Park. Ein Jahr später ist die jetzige Vereinshütte und Basis von Mitglied Paul Stöffel geplant und gemeinsam gebaut worden. Die Hütte beinhaltet eine Bar samt Kaffeemaschine und bietet ein Lager für die Technik bis hin zu den Sitzgelegenheiten. Somit sind die wichtigsten Dinge schon da, um schnell und unkompliziert Veranstaltungen durchzuführen. Das einzige was fehlt, obwohl es eigentlich schon mal da war, sind öffentliche Toiletten. Von der Stadt aus gibt es dazu nur Lippenbekenntnisse und keine wirkliche Unterstützung für dieses Anliegen. In einem eigens geschaffenen Projekt: „Ich geh Klo“ ist auf diesen untragbaren Zustand aufmerksam gemacht worden.
Ausgangspunkt war und ist der Park, von dort aus ist die Kulturarbeit gestartet. Die Themen waren recht schnell definiert: Das Fördern des sozialen Zusammenlebens mit der Verbindung der öffentlichen Nutzung des Parks. Vor dem Hintergrund, dass mehr Tourist*innen in den Stadtteil kommen sollten und der damit verbundenen Diskussion, dass zum Beispiel am Brückenkopf ein Café entstehen sollte, ist deutlich geworden, dass man sich als Verein aktiv einbringen muss. Ein Ziel war, den Park selbst zu bespielen und zu gestalten, damit nicht weitere Konsumräume entstehen.
Susanne wohnt selbst seit über 30 Jahren im Stadtteil. Sie hat die Veränderungen der letzten Jahre im Stadtteil gut mitbekommen: „Der Stadtteil war lange migrantisch geprägt. Es gab hier viele Substandardwohnungen und daher war der Park das Wohnzimmer für die Menschen.“ Dass der Park als öffentliches Wohnzimmer funktioniert, ist ein großes Anliegen des Vereins. Susanne erzählt davon, wie toll es ist, wenn zufällig Menschen vorbeikommen und bei ihren Veranstaltungen hängen bleiben. Sie persönlich ist ein Fan des Theorieparks. Ein Format des Vereins, welches sich auf der Website folgendermaßen präsentiert:
„Alles hängt mit allem zusammen und kompliziert ist es auch noch! Und weil Input von außen niemals schadet, setzt die Vogelweide auch im Jahr 2019 die Reihe Theoriepark fort. Eingeladen werden Menschen, die sich intensiv mit verschiedenen gesellschaftlichen Themen auseinandersetzen und diese normalerweise eher in Fachkreisen diskutieren. Die Vogelweide holt den Diskurs in den Park.“
Susanne betont, wie wichtig sie dieses Format findet, vor allem auf Grund der nicht immer einfachen politischen Lage in Österreich. Diese Veranstaltungsreihe ist aber nur eine von vielen. Es gibt noch den Speakers Corner, wo Menschen die Möglichkeit haben darüber zu reden, was sie bewegt: Von Nischenthemen bis zu den ganz großen Dingen. Außerdem gibt es noch das Konspirative Essen und einen sehr diskutierten Punkt: Veranstaltungen von Dritten. Der rote Faden ist, dass alles in der Öffentlichkeit passiert.
... aber nicht, wo Kultur abgebildet wird, sondern erfahren und erlebt wird." (Mitglied Verein Vogelweide)
Außerdem wird im Verein jedes Jahr ein Jahresthema gesetzt. 2019 war es „Love First“. Im Jahr zuvor war es der Schwerpunkt „Res Publica – Eine öffentliche Sache“, der auf das historische Beispiel in der römischen Geschichte verweist. Als Antwort auf die Willkürherrschaft Einzelner und deren Macht, Entscheidungen zu treffen, sind alle Angelegenheiten, die das Gemeinwesen betreffen zu einer öffentlichen Sache gemacht worden. Die Fragestellungen sind gleich geblieben: Wie funktioniert eine lebendige Demokratie? Wo, wie und unter welchen Umständen finden gesellschaftliche Debatten statt oder wer ist mit „wir“ eigentlich gemeint? Diese oder ähnliche Fragestellungen sind im Waltherpark in den unterschiedlichsten Formaten gemeinsam thematisiert worden. Das ermöglichte ein Experimentierfeld mitten im Park zwischen Kultur, Stadt und Forschung.
Bei den Veranstaltungen von Dritten merkt man auch, dass es unterschiedliche Positionen und Zugänge in der Gruppe gibt. Auch wenn ziemlich alle das Interesse von anderen Menschen und Gruppen positiv finden, gibt es keine einheitliche Meinung darüber: Welche Veranstaltungen? Wie groß oder wie viele überhaupt? Denn im Kern ist die Frage zentral, wie viele Veranstaltungen sind dem Park und den Bewohner*innen zumutbar. Michael Klingler, Mitglied und Geograf problematisiert diesen Spagat zwischen Offenheit als Kulturort und der Frage, wann es zu kommerziell wird: „Es hat Anfragen gegeben, wie z.B. von Sonnendeck und vielen mehr. Man kann nicht Bürgerbeteiligung machen und von Anwohnerfreundlichkeit reden und dann holt man 500-600 Leute hier her.“
Dass nicht alle Menschen im Stadtteil mit dem Schaffen des Vereins glücklich sind, wird selten direkt an ihn herangetragen. Am deutlichsten beim Fotoprojekt „Semaphor“. Hier ist ein Jahr lang zusammen mit Flüchtlingen gearbeitet worden. Es gab vereinzelt Anfeindungen gegenüber dem Verein, dass er Flüchtlinge in den Park bringen würde. Trotzdem gibt es eine breite Zustimmung der Bewohner*innen und eine gute Zusammenarbeit auch mit dem lokalen Wirtschaftsverein und der Pfarre im Stadtteil.
Bei den Parkprojektionen, einer der letzten Veranstaltungen im Jahr 2019, werden Filme der Innsbrucker Filmemacherin Melanie Hollaus gezeigt. Trotz der Anfang Oktober schon recht eisigen Temperaturen finden sich einige Menschen im Park zusammen, um gemeinsam die Filme zu schauen. Es gibt ein wärmendes Feuer, Sitzgelegenheiten und etwas zum Trinken. Immer wieder bleiben Menschen stehen. Sie schauen interessiert, was hier passiert und einige setzen sich auch dazu. Es sind Menschen, die von der Veranstaltung nichts gewusst haben und zufällig vorbeikommen. Daran sieht man schön, dass einer der größten Verdienste des Kulturvereins Vogelweide jener ist, dass der Park abseits marktwirtschaftlicher Logik genutzt werden kann. Ana, sie ist ebenfalls beim Verein dabei, beschreibt sehr anschaulich, was bei den Veranstaltungen passiert: „Da geht was im Park – es ist schwierig, das in einem Satz zu beschreiben, aber man trifft sich um ein kulturelles Erlebnis zu haben, den Park als Ort des Treffpunkts zu fördern, als etwas wo Bewegung ist, wo etwas passiert, nicht so wie in einem Museum.“
Einig sind sich alle, dass der Park inzwischen mehr bespielt und genutzt wird und wenn man die Situation in Innsbruck anschaut, wird auch schnell deutlich, dass der Waltherpark inzwischen der einzige innerstädtische Ort ist, wo die allseits umgreifende Verbotspolitik Innsbrucks noch nicht um sich gegriffen hat. Die "soziale Kontrolle" erfolgt hier durch die Menschen, die den Park in Anspruch nehmen und darauf schauen, dass er für alle offen und erhalten bleibt.
TKI - Tiroler Kulturinitiativen
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