Der Neuwirt in Wattens sieht von außen wie ein recht gewöhnliches Dorfgasthaus aus. Tiroler Giebeldach, dunkler Holzbalkon, Putzfassade mit Heiligenfresken, das obligate Gasthausschild mit der Bierwerbung und die rustikale Vitrine, in der einmal die Speisekarte hing.
Zur Straße hin kaum sichtbar ist aber das eigentliche Juwel dieses Wirtshauses – ein beinahe mondäner Festsaal mit hohen Fenstern, Stuckdecke und Lustern, in dem seit seiner Errichtung 1909 rauschende Feste, Maskenbälle, Theatervorführungen, Preiswatten und Versammlungen aller Art stattfanden. Ein Brand zerstörte 1951 den hölzernen Dachstuhl, der eindrucksvoll an ein St. Moritzer Grandhotel erinnert hat, und der Saal wurde mit einem schlichteren Dach wiederaufgebaut. Fast ein Jahrhundert lang war dieses Haus ein zentraler Ort des Wattener Dorfgeschehens und genau das soll es auch jetzt wieder werden. Der Kulturverein Grammophon hat diesen geschichtsträchtigen Platz aus dem Dornröschenschlaf geweckt und zu seinem Hauptquartier gemacht. Von der Patschenbar aus – einem kleinen Juchee im Obergeschoss, wo früher die Pflanzen überwinterten, tüfteln die "Grammos" seit 2020 am Kultur- und Gemeinschaftshaus Neuwirt. Die Zeit ist reif, um die fast 15 Jahre hindurch aufgebaute Kulturarbeit hier zu verdichten und zu verorten.
Tonaufnahme: Alex Erler über den Neuwirtsaal
Begonnen hat die Geschichte des Wattener Kulturvereins, der so konsequent wie wenige Kulturarbeit als Werkzeug der Dorfentwicklung einsetzt, aber schon im Jahr 2007. Die Volksschulwiese, wo Generationen von Jugendlichen spielend ihre Nachmittage und Ferien verbrachten, musste dem Bau eines Turnsaals weichen, da galt es, gebührend Lebewohl zu sagen. „Wiesenrock“ war geboren – und blieb keine einmalige Abrissparty, sondern wurde für zehn Jahre zum überregional beachteten Rockfestival. Um die Organisation auf strukturelle Beine zu stellen, gründeten Alex Erler, Michael Hammerschmidt, Christoph Knapp und Georg Mariacher gemeinsam mit sechs weiteren jungen Wattenern 2009 den Verein Grammophon mit der Idee, auch unterm Jahr Programm zu machen. Es wurden schließlich bis zu 60 Veranstaltungen jährlich – Workshops, Kulturstammtische, Improtheater, Wohnzimmerkino, Vorträge, Radlwerkstätten, Konzertreihen, Koffermärkte, ein Gemeindelabor und vieles mehr an unterschiedlichen Orten in Wattens – gleichzeitig hielt sie das Wiesenrock-Festival ziemlich in Schach. Alex Erler, von Anfang an eine der treibenden Kräfte hinter der Wattener Kulturarbeit, erinnert sich an den Spirit im Team: "Wenn am Festivalwochenende bis zu 120 Freiwillige gemeinsam da sind, das ist schon ein starker kollektiver Zauber, diese Energie, zusammen etwas Großes aufgestellt zu haben." Das Wiesenrock machte lokale Bands bekannt, aber es spielten dort auch Wanda und Bilderbuch, bevor sie ein halbes Jahr später schon Stars waren. Das Wiesenrock blieb trotzdem familiär, detailverliebt, ein Raum für Experimente und Initialzündung für viele Folgeprojekte. Über die Jahre wuchs es als Kunst- und Kulturfestival auf den Vorplatz des inzwischen aktivierten Hauptschulhofes hinaus, und es wurde klar, welche soziokulturelle Funktion es für das Dorf hat. Auf gewisse Weise blieb es die kreative Spielwiese, aus der es sich gegründet hat.
Bald kam noch ein weiterer wichtiger Grundwert dazu: der Klimaschutz. "Irgendwann sind wir am Tag nach dem Festival auf diesem Haufen Müll gestanden und haben gedacht, da muss man was tun", erinnert sich Alex. Es bestand bereits eine Zusammenarbeit mit dem Klimabündnis Tirol und so wurde das Wiesenrock ab 2013 zum ersten Pilotprojekt für ein nachhaltiges Kulturfestival – ein Schlagwort, das heute schon weit mehr Präsenz hat als damals. In den Folgejahren tigerten sich die Grammos und das erweiterte Wiesenrock-Organisationsteam extrem in das Thema hinein und entwickelten alle Aspekte der Nachhaltigkeit konsequent weiter. Anfangs war das im Verein nicht ganz reibungsfrei ("ist dieser Zusatzaufwand echt notwendig"), aber schlussendlich machte es alle stolz, dass ein Wattener Festival österreichweit als Green Event-Vorbild herausgestrichen und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Über die Jahre ging vielen aber die Kraft aus für den enormen ehrenamtlichen Einsatz. Außerdem wurden die Auflagen für Veranstaltungen immer schärfer, und von manchen lokalen Stellen wurde das Potenzial des Festivals nie so wirklich erkannt. So beschloss das Kernteam 2017 schließlich, die Wiesenrock-Ära nach der zehnten Auflage zu beenden. Es war ein Ringen, sagen die meisten, machte aber Platz für Vieles, das in den letzten Jahren schon angelaufen war.
"Früher haben wir Veranstaltungen organisiert, jetzt interessiert es uns viel mehr, Zusammenleben zu organisieren", erzählt Alex Erler über den Status quo von Grammophon, wo inzwischen zwei Teilzeitstellen geschaffen (Alex Erler und Veronika Lex) und ein weiterer Mitarbeiter (Christian Schwarzer) auf Werkvertragsbasis finanziert werden konnten. Was braucht es, damit eine Dorfgemeinschaft für möglichst viele gut und fruchtbar ist? "Wir haben ein recht erdiges Verständnis von Kultur. Kultur ist für uns ein Raum, der aufgeht, ohne dass du schon genau weißt, was passieren wird."
So sollen möglichst viele Leute ins Tun kommen und ihre Selbstwirksamkeit erleben. Der Neuwirt soll den Raum dafür schaffen, mit Projekten wie der Startrampe, wo zivilgesellschaftliches Engagement aktiviert und begleitet wird, dem Machmittwoch, einem offenen Denk- und Tüftelabend für alle, die sich einbringen wollen, oder dem Labor, wo gemeinsam mit Künstler*innen Themen des Gemeinwesens in die dörfliche Praxis übersetzt werden. Wichtig sind dabei vor allem die Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit von Ereignissen, etwas das ein Gasthaus ja ursächlich immer schon mit sich brachte. Wer hier eine Hochzeit feiert oder zum Konzert kommt, findet plötzlich auch beim politischen Filmabend oder der Klimadiskussion herein.
Wo Gemeindearbeit oft sehr technisch-ökonomisch denkt und vor allem mit Infrastruktur zu tun hat, betrachtet Kultur die mindestens ebenso wichtigen sozialen Prozesse, über die sich ein Ort manifestiert. Kulturarbeit in einem Dorf ist wie ein Labor für die Gesellschaft im Großen, meinen die Grammos. und möchten mit ihrer "aufsuchenden Kulturarbeit", also einer die möglichst viele inkludieren und aktivieren will, einen Wandel anstoßen. In der "Company Town" Wattens ist es allerdings immer noch nicht selbstverständlich, als zeitgenössischer Kulturverein ernst genommen zu werden. Wenn man nicht zum Unternehmertum zählt, hört einem hier nicht so schnell jemand zu, sagt Alex, der neben Grammophon auch beim Verein Kunstraum Wattenbach und dem Netzwerk Klimakultur Tirol engagiert ist. Anliegen und Ideen aus der Zivilgesellschaft werden leider vielerorts immer noch als lästiger Kleinkram wahrgenommen. Für die nächsten fünf bis zehn Jahre gäbe es jedenfalls genug Ideen für die 1200 m2 Fläche im Neuwirt, vieles davon ist noch Zukunftsmusik. Die zentrale Frage dabei: wie kann man so ein Gasthaus fürs 21. Jahrhundert neu denken? Eine Frage nicht nur für Wattens!
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